Filme



Aktuelles

2010-10-19

Lesetipp: Offener Brief Ralph Giordanos an Christian Wulff:

“Wer sind wir denn, dass wir
uns fürchten, zu Ausländer und Fremdenfeinden gestempelt zu werden, wenn
wir uns zu eigenen Wertvorstellungen bekennen?”

Oktober 11, 2010 by osi

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
„Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland, das Judentum gehört zweifelsfrei zu
Deutschland, das ist unsere christlich-jüdische Geschichte, aber der Islam gehört inzwischen
auch zu Deutschland“. Dieser Satz in Ihrer Rede vom 3. Oktober anlässlich des 20.
Gedenktags der Wiedervereinigung offenbart in seiner Pauschalität eine so verstörende
Unkenntnis der Wirklichkeit und verfrühte Harmonisierung grundverschiedener Systeme,
dass es einem die Sprache verschlagen will.
Ich maße mir nicht an, Ihnen Nachhilfeunterricht in Geschichte erteilen zu wollen, aber hier
wird eine blauäugige Gleichsetzung des realexistierenden Islam mit einem EU-konformen
Wunsch-Islam so sichtbar, dass energischer Widerspruch eingelegt werden muss. Denn der
politische und militante Islam ist nicht integrierbar, aber auch der „allgemeine“ jenseits davon
ist noch problematisch genug.
Ist er doch bisher auf die Frage, ob er vereinbar sei mit Meinungsvielfalt, Gleichstellung der
Frau, Pluralismus, Trennung von Staat und Religion, kurz, mit Demokratie, jede
überzeugende Anwort schuldig geblieben. Eine dunkle Wolke, die am Himmel des 21.
Jahrhunderts schwebt, und von der auch die Bundesrepublik Deutschland durch eine total
verfehlte Immigrationspolitik unmittelbar berührt wird.
Hier stoßen in der Tat zwei grundverschiedene Kulturkreise aufeinander, und das in sehr
unterschiedlichen Entwicklungsstadien.
Einmal der judäo-christliche, in dem sich nach finstersten Geschichtsepochen mit
Renaissance, Aufklärung, bürgerlichen Revolutionen und ihrer Fortschreibung das
liberale Muster durchgesetzt hat, ein gewaltiger Sprung nach vorn. Dann der andere,
der islamische Kulturkreis, der nach zivilisatorischen Glanzzeiten, die das Abendland
nur beschämen konnten, bei aller inneren Differenzierung dennoch bis heute eine
gemeinsame patriarchalisch-archaische Stagnation zu verzeichnen hat:
gehorsamsorientiert, säkularitätsfern, auf Ungleichheit der Geschlechter, elterliche
Kontrolle und fraglose Anerkennung von religiösen Autoritäten fixiert. Es ist der
Zusammenstoß zwischen einer persönliche Freiheiten tief einengenden, traditionsund
religionsbestimmten Kultur, und einer anderen, nach langen Irrwegen
individualistisch geprägten, vorwiegend christlichen und doch säkularen Gesellschaft.
In dieser Auseinandersetzung türmen sich riesige Hemmnisse, und es sind Muslime selbst,
die auf sie hinweisen. So der große türkische Schriftsteller Zafer Senocak, der das
Seziermesser an der wundesten Stelle ansetzt: „Kaum ein islamischer Geistlicher,
geschweige denn ein frommer Laie, ist willens und in der Lage, das Kernproblem in der
Denkstruktur des eigenen Glaubens zu sehen. Sie sind nicht bereit zur kritischen Analyse
der eigenen Tradition, zu einer schonungslosen Gegenüberstellung ihres Glaubens mit der
Lebenswirklichkeit in der modernen Gesellschaft.“
Oder der unerschrockene Abbas Baydoun, langjähriger Feuilletonchef der libanesischen
Tageszeitung „As-Safir“, der sich auf das ähnlich gefährliche Gebiet tabuloser Selbstkritik
begibt: „Bei uns suchen viele nach Ausreden, nicht in den Spiegel zu schauen, um uns den
Anblick eines fürchterlichen Gesichts zu ersparen, des Gesichts eines anderen Islam, des
Islam der Isolation und der willkürlichen Gewalt, der nach und nach die Oberhand gewinnt
und bald, während wir dem Höhepunkt der Verblendung zusteuern, unser tatsächliches
Gesicht sein wird.“
Was, Herr Bundespräsident, sind Salman Rushdies „Satanische Verse“ gegen diese
Beschwörungen? Hier machen Muslime Schluss damit, die Verantwortlichkeit für die
eigenen, selbstverursachten Übel und Missstände an „Europa“, den „Großen Satan USA“
oder den „Kleinen Satan Israel“ zu delegieren. Hier prangern Muslime die Unfähigkeit der
islamischen Welt zur Selbstreflexion an, hier wird die eigene Elite als der wahre Verursacher
der Krise beim Namen genannt. Und dabei ausgesprochen, was auszusprechen kein
Nichtmuslim je wagen würde: Nicht die Migration, der Islam ist das Problem!
Ein riesiger, revolutionsüberreifer Teil der Menschheit, die „Umma“, also die gesamte
Gemeinschaft der Muslime, so differenziert sie auch in sich ist, droht an ihrer eigenen kulturund
religionsbedingten Rückständigkeit und Unbeweglichkeit zu ersticken. Ein gleichsam
dröhnendes Ausrufezeichen dazu: die gespenstische Talmiwelt der Öl-Billionäre am Golf,
das Fettauge auf der Bodenlosigkeit eines geld- und goldstrotzenden Zynismus – „Das kann
nicht gutgehen“, so Orhan Pamuk.
Aber auch in Deutschland, sehr geehrter Herr Bundespräsident, gibt es muslimische
Stimmen, die Ihrer Einbringung des islamischen Kulturkreises in den judäo-christlichen
skeptisch gegenüberstehen.
So etwa die iranische Theologin Hamideh Mohaghegni, die warnte, „dass die
innerislamischen Klärungen auf dem Wege zu einem Euro-Islam noch zwanzig bis dreißig
Jahren in Anspruch nehmen werden, und es auch dann immer noch fraglich sei, ob der sich
hier durchsetzen oder dem traditionellen Islam unterliegen wird.“
Eine andere Stimme, die dazu aufruft, der Meinung des Volkes Beachtung zu schenken und
muslimischen Verbands- und Moscheevereinsfunktionären kritisch gegenüber zu treten, ist
die von Dr. Ezhar Cezairli, Mitglied der Deutschen Islamkonferenz: „Ich finde es verständlich,
wenn Menschen, die keineswegs der rechten Szene zugehören, Angst vor Islamisierung
haben.“ Und weiter: „Es ist eine Gefahr für die Zukunft Deutschlands, dass manche Politiker
durch ihre Ignoranz gegenüber islamischen Organisationen dabei sind, die Grundlagen
unserer aufgeklärten Gesellschaft aufzugeben.“
Das all den Pauschalumarmern, xenophilen Einäugigen, Sozialromantikern, Gutmenschen
vom Dienst und Beschwichtigungsaposteln ins Stammbuch, deren Kuschelpädagogik auch
nach Thilo Sarazzin noch so tut, als ob es sich um eine multikulturelle Idylle handelt, die
durch sozialtherapeutische Maßnahmen behoben werden könnte.
Keine Missverständnisse, sehr geehrter Herr Bundespräsident: Es bleibt die Ehre der
Nation, jeden Zuwanderer, Fremden oder Ausländer gegen die Pest des Rassismus
und seine Komplizen zu schützen.
Gleichzeitig aber ist es bürgerliche Pflicht, sich gegen Tendenzen, Sitten, Gebräuche
und Traditionen aus der türkisch-arabischen Minderheit zu wehren, die jenseits von
Lippenbekenntnissen den freiheitlichen Errungenschaften der demokratischen
Republik und ihrem Verfassungsstaat ablehnend bis feindlich gegenüberstehen.
Die entscheidenden Integrationshemmnisse kommen aus der muslimischen Minderheit
selbst, auch wenn man davon ausgehen kann, dass ihre Mehrheit friedliebend ist. Es bleibt
jedoch verstörend, wie rasch in der Welt des Islam riesige Protestaktionen organisiert
werden können, sobald Muslime sich angegriffen oder beleidigt fühlen. Wie stumm es aber in
den hiesigen Verbänden und Moscheevereinen bleibt, wenn, zum Beispiel, in der türkischen
Stadt Malatya drei Mitarbeiter eines Bibelverlags massakriert, Nonnen in Somalia
erschossen und in Pakistan Christen wegen Verstoßes gegen das „Blasphämiegesetz“ in
Todeszellen gehalten werden, wo sie auf ihre Exekution warten. Eisernes Schweigen…
Das Migrations/Integrationsproblem erfordert aber eine ebenso furchtlose wie kritische
Sprache.
Wo sind wir denn, dass wir uns fürchten, zu Ausländer- und Fremdenfeinden
gestempelt zu werden, wenn wir uns zu eigenen Wertvorstellungen bekennen? Wo
sind wir denn, dass wir uns scheuen müssen, eine paternalistische Kultur, in der das
Individuum nichts, die Familie und Glaubensgemeinschaft aber alles ist,
integrationsfeindlich zu nennen? Was ist denn falsch an der Feststellung, dass in
ungezählten Fällen der Zuwanderung der Anreiz nicht Arbeit gewesen ist, sondern die
Lockungen der bundesdeutschen Sozialkasse?
„Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ – wirklich?
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es nicht unbedrohlich ist, daran Zweifel zu äußern – ich
weiß, wovon ich rede. Der Islam kennt die kritische Methode nicht. Deshalb wird Kritik stets
mit Beleidigung gleichgesetzt. Was nicht heißt, daß es keine kritischen Muslime gibt.
Meinen Beitrag führe ich an ihrer Seite, mit so tapferen Frauen wie Necla Kelek, Seyran
Ates, Mina Ahadi, Ayaan Hirsi Ali – und allen anderen friedlichen Muslima und Muslimen auf
der Welt.
Noch ein Postscriptum zu meinem eigenen Antrieb: Als Überlebender des Holocaust kenne
ich den Unterschied zwischen Hitlerdeutschland und der Bundesrepublik. Ihre Demokratie ist
mir heilig, denn nur in ihr fühle ich mich sicher.
Deshalb: Wer sie antastet, hat mich am Hals, ob nun Moslem, Christ oder Atheist.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ralph Giordano