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2009-08-24

Josef Kraus zum Pisaschwindel



SWR2 AULA; Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch; Sendung: Sonntag, 24. Juli 2005, 8.30 Uhr,; Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Ansage: Heute mit dem Thema: „Der PISA-Schwindel - Eine Polemik gegen die neue Testkultur“.

PISA hat uns wieder fest im Griff. Vor ein paar Tagen wurden die Ergebnisse des neuen Tests veröffentlicht, es gab leichtes Aufatmen, die Schüler und Schülerinnen sind etwas besser geworden, aber nach wie vor gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern, erhebliche Unterschiede.

Nach Erscheinen dieser nationalen PISA-Studie gab es in der öffentlichen Diskussion die üblichen Reaktionsmuster: Die einen plädierten für die Ganztagsschule, die anderen dagegen, die einen wollten das dreigliedrige Schulsystem sofort abschaffen, die andern wollten, das alles so bleibt, wie es ist.

PISA hat dazu geführt, dass wir kein Vertrauen mehr haben in unsere Schüler und Schulen. Und das liegt vor allem daran, dass wir Deutschen viel zu unkritisch mit dieser Studie umgehen. Das sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Oberstudiendirektor und ehemaliger Leiter eines Gymnasiums in Bayern. Er hat Zweifel an der Repräsentativität von PISA, er hält nichts von der Testeritis, nichts von Legendenbildung um Ganztagsschulen, nichts vom Mythos der angeblich vorbildlichen Finnen.

In der SWR 2 – AULA erklärt Kraus, warum PISA für ihn sehr viel mit Schwindel zu tun hat.

Josef Kraus:

Mir ist der Kragen geplatzt. Das dürfte ich als Pädagoge eigentlich nicht sagen. Er ist mir dennoch geplatzt, weil die öffentliche bzw. veröffentlichte Debatte um die deutschen PISA-Ergebnisse mittlerweile zur Kampagne geworden ist. Vor allem aber ist mir der Kragen auch geplatzt, weil gewisse PISA-Deuter meinen, mit hochselektiv verbreiteten und ebenso einseitig interpretierten PISA-Ergebnissen das gesamte deutsche Schulsystem und auch die gesamte Schülerschaft Deutschlands in Misskredit bringen zu können.

Deshalb will ich mich anlegen mit unseren PISA-Gouvernanten samt ihren Schauermärchen. Aber PISA hat nicht nur mit Schauermärchen zu tun, sondern noch mehr mit Schwindel - und zwar in zweierlei Hinsicht:

- Schwindel ist zum einen ja das Ergebnis einer Täuschungsabsicht: Da schwindelt einer, weil er seine wahren Absichten verbergen will.

- Schwindel ist aber auch das Ergebnis einer vorübergehenden oder chronischen geistigen Absenz, eine Störung der Orientierung aufgrund von Benommenheit oder gar Trunkenheit.

PISA hat mit beiden Arten von Schwindel zu tun – mit Täuschung und mit Taumel, damit zugleich mit Politik und mit Psychologie:

PISA hat mit Politik zu tun. Wo aber Politik ist, sind Propaganda und Kampagne, zumal in der Bildungspolitik, nicht weit. Wir kennen dies seit Jahrzehnten, nämlich seit der größenwahnsinnigen Reformitis der 68er mit ihrer Vision von der angeblichen Egalität aller Menschen, Strukturen, Werte und Inhalte.

Und PISA hat mehrfach mit Taumel und insofern mit Psychologie zu tun. Wie im Höhenrausch geben manche „Pisaner“ vor, mit einem 120-Minuten-Test untersuchen zu können, „wie gut die jungen Menschen auf Herausforderungen der Wissensgesellschaft vorbereitet sind“. Außerdem (siehe Stichwort „Höhenrausch“): Kaum war irgendeine schulpolitische oder schulpädagogische Schnapsidee mit PISA begründet worden, stand sie schon vor der Heiligsprechung zum Wundermittel.

Aber gläubige „Pisaner“ müssen auch einstecken können. Sie sollten Polemik sogar herbeisehnen, denn „Wahrheit ist eine spottfeste Angelegenheit, die aus jeder Ironisierung um so frischer hervorgeht“ (Peter Sloterdijk). Rund 10.000 Seiten Studien und dergleichen sind seit 2002 allein in Deutschland zu PISA erschienen. Das Internet steht dem nicht nach. Bei einer Google-Suche landet man unter dem Stichwort „PISA“ weltweit 10.700.000, deutschsprachig 2.250.000 Treffer.
Diese Inflation läuft im Endergebnis auf eine Trivialisierung und Banalisierung der Bildungsdebatte hinaus. Seinen Niederschlag findet dieses Niveau nicht zuletzt in einem schnellen Profit, den viele mit PISA meinen machen zu können. Der erste PISA-Ergebnisband war jedenfalls noch nicht trocken, da schossen schon die Verlagsprodukte aus dem Boden mit Titeln wie: „PISA–Powertraining für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis“, „15 Gebote des Lernens – Schule nach PISA“, „Wann ist mein Kind PISA-fit?“.

Kurz und gut: Unsere Jugend hat etwas anderes verdient als ein ständiges „Herumgenöle“. Unsere Jugend hat ihre Schwächen, aber sie hat auch ihre guten Seiten. Und nicht wenige Jugendliche sind bodenständiger als so mancher Erwachsener, von denen man ohnehin sagt, es gibt sie nicht mehr, es gibt allenfalls die „Post-Adoleszenten“.

Zurück aber zu PISA. Man kann die Studie natürlich nicht einfach wegwischen. Das Ergebnis ist auch auf den zweiten Blick nicht berauschend, man muss sich mit ihm genau auseinandersetzen. Dies will ich tun.

Dazu zunächst sechs Widersprüche, Zweifel, Diagnosen:

Zum ersten: Ich habe Zweifel an der Repräsentativität. Inwieweit PISA-Aufgaben lehrplanmäßig, also curricular gültig, valide sind, ist nicht unumstritten. Hier kommen Experten zu sehr unterschiedlichen Aussagen. Zwischen 32 und 82 Prozent der Experten sagen, das hat mit Lehrplänen etwas zu tun.

Und inwieweit die Stichproben solcher Studien repräsentativ sind, ist ebenfalls skeptisch zu beurteilen. Vergleicht man die nationalen Ergebnisse verschiedener internationaler Testungen, so ist vieles überhaupt nicht mehr nachvollziehbar.

Tschechien, Neuseeland, Frankreich, Rußland oder Zypern schneiden, je nach Test – PISA oder TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) – mal ganz oben, mal ganz unten ab. Und ähnlich gravierende Differenzen ergeben sich, wenn man die nationalen Rangplätze einerseits bei PISA und andererseits bei der Grundschulstudie IGLU vergleicht: Neuseeland, Island und Norwegen liegen bei PISA recht gut, bei IGLU fallen sie zurück. Umgekehrt lagen Ungarn und Lettland bei PISA zurück, positionierten sich aber bei IGLU ganz vorne.

Das heißt: Wir haben es bei Testungen à la PISA, TIMSS oder IGLU mit äußerst instabilen und nicht unbedingt repräsentativen Ergebnissen zu tun.

Ein zweiter Punkt: Die Tatsache, dass im internationalen Vergleich Länder mit Einheitsschulen gut abgeschnitten haben, sagt überhaupt nichts aus über das Leistungsvermögen der Gesamtschule oder Einheitsschule in Deutschland. Gesamtschule in Deutschland ist vielmehr „out“, denn die Empirie hat eindeutig nachgewiesen, dass die deutsche Gesamtschule jedenfalls zu teuer und zu leistungsschwach ist.

Die sogenannte BIJU-Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung („Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter“) weist eindeutig aus: Gesamtschule in Nordrheinwestfalen etwa rangiert leistungsmäßig und auch hinsichtlich sozialen Lernens um zwei Jahre hinter der Realschule.

An diesen Befunden ändert auch die Hofberichterstattung deutscher Agenturen und Tageszeitungen seit November/Dezember 2002 über das angeblich herausragende Abschneiden zweier deutscher Reform-Gesamtschulen nichts. Mit „Musterschulen“ oder „Traumnoten“ ist da nichts. Was die PISA-Ergebnisse der Laborschule Bielefeld und der Helene-Lange-Gesamtschule Wiesbaden nämlich betrifft, so sind deren Ergebnisse schlicht und einfach falsch dargestellt. Beide Schulen sind - gemessen an ihrer Schülerklientel - stinknormal durchschnittlich. Faktum ist: Alle Gymnasien und viele Realschulen haben bessere Werte als diese Schule.

Wenn Gesamtschul-Kräfte zudem von der Gesamtschule schwärmen, weil diese soziale Selektion vermeide, dann verschweigen sie, dass knallharte soziale Selektion nach dem Geldbeutel der Eltern nicht in Deutschland, sondern in Ländern mit Gesamtschulen stattfindet: In England, Frankreich und in den USA laufen die Eltern der Gesamtschule davon, wenn sie es sich leisten können, ihr Kind für Jahresgebühren von 15.000 Euro in eine Privatschule zu schicken. Wie man sieht: In allen Ländern, wo der öffentliche Schulsektor an Akzeptanz verliert – und ich behaupte, das tut er wegen der Gesamtschulen –, wächst der private Sektor.

Ein dritter Punkt: Ich möchte mich auseinandersetzen mit Legendenbildung um die Skandinavier-Ergebnisse. Denn seit Jahrzehnten pilgern progressive deutsche Bildungspolitiker nach Skandinavien. Dort sind angeblich alle Visionen verwirklicht, die man in Deutschland nicht verwirklichen konnte. Dabei rangiert etwa Dänemark bei PISA 2000 und 2003 gerade eben auf Rängen zwischen 12 und 26; in den Naturwissenschaften findet sich Dänemark zuletzt sogar nur noch vor den Schlusslichtern Portugal, Türkei und Mexiko.

Aber widmen wir uns kurz dem „PISA-Sieger“ Finnland. Dieses weite Land mit seinen etwa fünf Millionen Bewohnern wurde geradezu zum Mythos und zum Pilgerland hochstilisiert. Finnland hat eine sehr homogene Bevölkerung, also keine Probleme mit der schulischen Integration von Migrantenkindern: Laut Statistik haben von den finnischen Schülern nur 1,2 Prozent Eltern, die beide im Ausland geboren sind. Zum Vergleich: In Deutschland sind es unter der PISA-Population 15,2 Prozent.

Finnland hat eine ausgeprägte Lesekultur. Womöglich hat dies auch mit den kurzen finnischen Tagen zu tun, an denen es nur für sechs Stunden, von 9 bis 15 Uhr, Tageslicht gibt, und die viel Zeit lassen für lange Leseabende. Vor allem aber dürfte das damit zu tun haben, dass die Finnen sehr stolz auf ihre Sprache und auch auf ihre Literatur sind. Die finnische Nationalliteratur entwickelte sich nicht zuletzt aufgrund langer schwedischer Fremdherrschaft und langer russischer Hegemonie. Die Kinder lernen demzufolge das Lesen, von den Eltern angestiftet und nach elterlichem Vorbild, sehr rasch und intensiv. Das hat übrigens auch mit der Tatsache zu tun, dass die meisten ausländischen Fernsehfilme nicht synchronisiert, sondern mit finnischen Untertiteln ausgestrahlt werden. Welches Kind möchte da nicht bald Englisch verstehen und Finnisch lesen können?

Und dann sollte man nicht übersehen, dass die Rahmenbedingungen für finnische Schulen optimal sind. Die Schulen haben im Schnitt 120 Schüler, und die durchschnittliche Klassenfrequenz liegt bei 18,2 (in Deutschland bei 23,9). Unterrichtsausfall gibt es nahezu nicht, denn es steht eine Vertretungsreserve an Lehrern zur Verfügung. Ein herausragendes Merkmal des finnischen Systems ist sodann sein Fördersystem. Schwächere Schüler werden sehr früh in Spezialkurse aufgenommen. Das betrifft etwa ein Sechstel der Schüler. Flankierend arbeiten an den Schulen viele Psychologen, dazu gibt es Schulschwestern für die vorbeugende Gesundheitserziehung.

Ansonsten ist auch in Finnland nicht alles Gold, was glänzt. Gar nicht vorbildlich stehen die Finnen etwa da, wenn es um die Zufriedenheit ihrer Schüler mit der Schule geht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat dazu im Sommer 2004 eine Jugendstudie veröffentlicht. In 35 Ländern Europas und Nordamerikas wurde unter anderem die Freude der Schüler an der Schule erfragt. Ergebnis: Unter den Fünfzehnjährigen (also den PISA-Getesteten) rangiert Finnland auf Platz 35, also auf dem letzten.

Und: In keinem anderen PISA-Land liegen die jeweiligen Migranten so weit hinter dem jeweiligen Landeswert wie in Finnland: Während im OECD-Durchschnitt und auch in Deutschland übrigens Migranten ca. 40 Punkte hinter dem jeweiligen Landeswert liegen, fallen sie in Finnland um rund 70 Punkte, also etwa zwei Schuljahre, zurück.

Ein vierter Punkt betrifft auch eine Legende, die Legende von der angeblichen sozialen Disparität des gegliederten Schulwesens.

Verschiedentlich tun Schulpolitiker so, als müssten sie via Abitur und Studium Sozialpolitik betreiben. Dahinter steckt mehr oder weniger unverstellt die Idee, der Staat habe individuell oder familiär bedingte Begabungs- und Leistungsunterschiede zu begradigen. Übrigens: Extrapolierte man diesen Gedanken, so müsste am Ende konsequenterweise die Forderung nach Abschaffung der Familie stehen.

Davon unabhängig: Seit Ende der 60er Jahre jedenfalls geht der Vorwurf durch die Lande, das gegliederte Schulwesen würde soziale Ungleichheiten produzieren. Vor über 30 Jahren mag das der Fall gewesen sein: Die Bildungsreserven waren bei weitem nicht ausgeschöpft, damals erwarben aus einem Geburtsjahrgang in Deutschland rund fünf Prozent das Abitur. Das sprichwörtliche katholische Mädchen vom Lande war früher selten unter den Abiturienten.

Da hat sich viel geändert. Die Gymnasiastenzahlen schnellten in die Höhe. Zudem dominieren heute die jungen Frauen; sie stellen mit 55 Prozent den größten Teil der Abiturienten und erzielen zudem die deutlich besseren Abiturnoten.

Gleichwohl halten manche Parteien, Gewerkschaften und verschiedene Erziehungswissenschaftler unvermindert an ihrer Theorie von der „sozialen Disparität“ des gegliederten Schulwesens fest und fordern eine drastische Steigerung der Abiturientenquote.

Aber: Die Quoten an Studierenden und an Akademikern sind völlig unzureichende Kriterien für die Charakterisierung eines Bildungswesens, denn Studium ist international nicht gleich Studium. Ein solches Quotendenken verwechselt Quantität mit Qualität. Beispiele: In Finnland und in den USA etwa gilt die Ausbildung zur Krankenschwester als Hochschulausbildung. Dieses Beispiel zeigt, dass viele deutsche Schul- und Berufsabschlüsse unterhalb der sogenannten akademischen Schwelle den gleichen Rang haben wie andernorts Hochschulabschlüsse. Die soziale Durchlässigkeit des Bildungswesens vieler anderer Länder ist zudem ein statistisches Artefakt: Wenn in Finnland die Tochter eines Industriearbeiters Krankenschwester oder Erzieherin wird, dann gilt sie als Aufsteigerin in akademische Ränge, in Deutschland trotz gleichwertiger Ausbildung nicht.

Eine fünfte Diagnose, ein fünfter Widerspruch: Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung wird ja seit ein, zwei Jahren in Deutschland zum schulpolitischen „Quantensprung“ hochstilisiert – hochstilisiert zur Allzweckwaffe gegen schwache PISA-Ergebnisse. Da tut etwas mehr Realismus Not – in der nationalen wie auch in der internationalen Betrachtung.

Dazu liegt aus dem Jahr 2003 ein interessantes Gutachten des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) vor. Dieses Gutachten leitet aus einschlägigen Forschungsbefunden aus dem In- und Ausland folgende Kernsätze ab: Die Ganztagsorganisation hat demzufolge keine Auswirkungen auf das Leistungsniveau der Schulen. Möglicherweise hat eine Verlängerung aktiver Lernzeit in der Schule einen gewissen positiven Effekt auf die kognitiven, also intellektuellen Fähigkeiten lernschwacher Schüler, während der Wegfall elterlicher Unterstützung bei sozial höhergestellten Familien negativ zu Buche schlägt; beides zusammen kann eine Nivellierung im Leistungsbereich bewirken.

Nun, da viele Ganztagsschulen zugleich Schulen einer privaten Trägerschaft sind, sei angefügt, die angebliche Überlegenheit privater Schulen bei PISA ist ebenfalls eine Legende. In PISA findet sich dafür, jedenfalls was Deutschland betrifft, keinerlei Bestätigung.

Und ich will noch eine sechste Diagnose, einen sechsten Befund, eine Psychodiagnose quasi anschließen: Fast alle anderen PISA-Nationen reagierten auf PISA anders als die Deutschen, nämlich gelassen und unaufgeregt. Fragt man etwa Lehrer aus den USA, Frankreich oder Italien nach PISA, wissen sie zumeist nicht, worum es geht.

Bei uns ist das anders. Wie Narziss hat sich Deutschland in sein masochistisch verzerrtes Selbstbild verliebt. Mit klammheimlicher Freude schaut man auf unsere „schlechten“ Rangplätze in der PISA-Tabelle. Die bildungspolitische Lage der Nation wird mehr und mehr flagellantenhaft zu einer permanenten weinerlichen Klage. Deutschland sollte sich nach meiner Meinung vielmehr mit zwei anderen Entwicklungen befassen:

- mit der fortschreitenden Verblödung zumindest des öffentlichen Lebens bei uns;
- mit der um sich greifenden pseudo-pädagogischen Schwatzhaftigkeit.

Das bedarf der Erläuterung. Stichwort Verblödung: Unsere PISA-Debatte leidet unter und an Demenz – vulgo: Dummheit. Schließlich vermittelt Schule alles, was sie vermittelt, nicht nur gegen so manch natürliche Trägheit so mancher Zöglinge, sondern auch gegen eine Dummheit, die Schule von außen fest im Griff hat. Wieso? Nun, wir haben eine endlose Tyrannei des Dummen und Ordinären um uns und unsere Kinder herum. Zum Beispiel bringt eine Zeitung dann an einem einzigen Tag in jeweils mehrspaltiger Aufmachung und mit Bild, dass die sogenannte Autobiographie eines piepsigen Schlagersängers gerichtlich gestoppt wurde; dass seine silikon-gestylte „Ex“ ihren Manager auf 250.000 Euro verklagt hat; und dass sich ein Fußball-Kaiser (Werbeslogan: „Ja is denn heit scho Weihnachten!?“) nach vier Söhnen von seiner aktuellen LAPin (Lebensabschnittpartnerin) eine Tochter wünscht. Tags darauf wird dann bestimmt im Nachrichtenteil (!) davon berichtet, dass ein wegen eines Mittelfingers berühmt gewordener Balltreter bei einer Party nach soundsovielen Caipirinha-Cocktails „gekotzt“ hat; dass ein in Sachen Besenkammer erfahrener Ex-Tennisspieler eine Autobiographie mit dem faustischen Titel „Augenblick, verweile doch ...“ geschrieben hat usw. Und natürlich hecheln sämtliche Trash-Talkshows hinterher und zerren diese Geistesriesen vor die TV-Kameras, um ihnen auch möglichst noch zu entlocken, welche Farbe ihre Unterhose wo und wann hatte.

Bei so viel Schrott sollte eigentlich gelten: Ein Land, das derartige Medienprodukte produziert, das sich solche Stars kürt, das solche Experten hat, das solche seichten Reformen inszeniert, braucht eigentlichen keinen PISA-Test mehr.

Und ein anderes Stichwort sei aufgegriffen: Die pseudo-pädagogische Schwatzhaftigkeit, denn unsere PISA-Debatte leidet an Logorrhoe. Karl Kraus, der wortgewaltige Wiener Lästerer, hat einmal gesagt: „Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben; man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.“ Lebte Karl Kraus heute noch, man darf sicher sein, er hätte Entsprechendes über die Sprache der „modernen“ Schulpolitik und Schulpädagogik losgelassen. Denn keine Ideen zu haben, aber trotzdem auf Geschwätzigkeit zu machen, ist zum Markenzeichen der Schuldebatte um PISA herum geworden. Logorrhoe heißt ein solches Erscheinungsbild - medizinisch Bewanderte nennen es krankhafte Geschwätzigkeit, weniger sensible Gemüter „Sprechdurchfall“.

Angesagt sind dementsprechend in quasi moderner Pädagogik: Quality Management, Marketing, Best Practice, Benchmarking, Just-in-time-Knowledge usw. Fehlt eigentlich nur noch ein „Last Minute Learning“, wenn dieses unsere Schüler nicht schon vor Jahrzehnten und Jahrhunderten erfunden hätten. Ansonsten geht nichts mehr ohne Laptop, Beamer und Power Point Presentation, Edutainment, Educ@tion, Learntec, didaktische Hyperlinks. Aber mit solcher sogenannter Bildung ist kein Staat zu machen.

Post PISAM (Nach PISA) sechs Konsequenzen, die ich gezogen wissen möchte:

Erste Konsequenz: Wir brauchen eine Renaissance des Leistungsprinzips in Schule und Erziehung – und in der Gesellschaft insgesamt! Die Kluft zwischen unserer Freizeit- und Spaßgesellschaft und den Anforderungen an Bildung wird immer größer. Wenn die Alten aber auf dem Trip zur 30-Stunden-Woche sind, müssen wir uns nicht wundern, wenn die jungen Leute keine 45-Stunden-Schul-und-Hausaufgabenwoche haben wollen, die sie aber haben müssten, wenn sie anspruchsvollen Standards gerecht werden sollen.

Ich plädiere gleichwohl für eine Leistungsschule und für eine Schule der Anstrengung! Es muss Schluss sein mit der Erleichterungspädagogik. Was dabei herauskommt, zeigt die jüngste orthographische Erleichterungspädagogik. Dabei hätte es einen anderen, effektiveren und preiswerteren Weg als das vorliegende Rechtschreibchaos gegeben, um die Rechtschreibleistungen unserer Jugend zu verbessern. Ganz einfach: Wir hätten die Rechtschreibung in den Schulen wieder ernster nehmen sollen!

Mit anderen Worten: Schule ohne klare Zielsetzungen und ohne Anstrengungsprinzip geht nicht! Alles zu dürfen und nichts zu sollen, das funktioniert nirgends, weder in der Gesellschaft noch in der Erziehung.

Meine zweite Forderung lautet: Wir brauchen eine Offensive für sprachliche Bildung. Das Beherrschen der Sprache ist unter den sogenannten Schlüsselqualifikationen nämlich die zentrale, denn alle Schlüsselqualifikationen haben mit Sprachbeherrschung und Sprachanwendung zu tun.

Ein Bildungssystem, das die sprachliche und literarische Bildung vernachlässigt, verschlechtert für junge Menschen die Entwicklungschancen und leistet damit einer Dekultivierung Vorschub. Das geschieht aber. Zumindest hat sich Beliebigkeit breit gemacht: Nicht wenige Bundesländer beförderten Gebrauchstexte inklusive Bedienungsanleitungen in den Rang wichtiger Textsorten. Immer mehr Bundesländer reduzieren bereits den Grundschulwortschatz; angesagt sind jetzt nur noch 700 Wörter! An vielen Schulen begnügt man sich - anstatt von den Schülern das Durchbeißen durch einen Roman zu verlangen - mit der haarkleinen Analyse von Fluten kopierter Textauszüge. Nein, das ist Lese-Verhinderungspädagogik.

Außerdem geht es nicht an, dass keine andere Kulturnation der Welt ihre Muttersprache als Schulfach so stiefmütterlich behandelt, wie es die Deutschen tun: Ganze 16 Prozent aller Unterrichtsstunden entfallen auf das Fach Deutsch - woanders sind es 23, 26 Prozent -, das man im Abitur in Deutschland zudem abwählen kann. Und noch eines, was zur sprachlichen Bildung gehört: Wir müssen endlich unsere Schulbibliotheken ausbauen. Die Südtiroler machen mit ihrem sehr guten PISA-Ergebnis vor, dass sich dies lohnt.

Ein dritter Punkt betrifft die Migranten. Migrantenkinder sind in Sachen Bildung in Deutschland Risikogruppen. PISA gibt Auskunft darüber. Im Bereich Mathematik erreichte Deutschland mit 503 Punkten einen mittleren Wert. Deutsche Schüler ohne Migrationshintergrund erzielen hier 527 Punkte, also nahe am finnischen Wert, deutsche Schüler mit nur einem im Ausland geborenen Elternteil 508, Kinder zugewanderter Familien 454 und Kinder der ersten Migrantengeneration 432 Punkte. Das entspricht in etwa dem PISA-Ergebnis der Türkei.

Diese Ergebnisse belasten nicht nur die betreffenden Kinder, sondern auch deren Klassen. Laut PISA 2000 führt ein Ausländeranteil von mehr als zwanzig Prozent an einer Schule zu einer „sprunghaften“ Verringerung des Lern- und Leistungsniveaus. In Australien, Kanada und in den USA sieht das anders aus; dort erzielen Migrantenkinder in etwa dieselben PISA-Werte wie die Kinder ohne Migrationsgeschichte. Allerdings ist das in diesen drei Einwanderungsländern wohl weniger eine Leistung der Schulen, sondern Ergebnis einer anderen Migrationspolitik und einer anderen Haltung der Migranten zu Fragen der Integration und zur Landesprache des Einwanderungslandes.

Etwas Allgemeines, ein Viertes, aber sehr wichtig: Abseits inhaltlicher und struktureller Reformen ist die Steigerung des Bildungsniveaus eine Frage der Motivation der Adressaten und Subjekte von Bildung, nämlich der Schüler und ihrer Familien. So wie die PISA-Diskussion aber bislang gelaufen ist, findet diese Motivation nicht statt. Vielmehr wird unseren Schülern und deren Familien immer wieder eingeredet, dass ihre im Durchschnitt schwächeren Leistungen eine Folge des „Systems“ seien. Wenn Schüler und ihre Eltern aber permanent eingeredet bekommen, dass ein Misserfolg am System liegt, dann ist es nicht mehr „mein“ Misserfolg. Und wenn es am System liegt, kann ich es mir in der Welt bequem machen.

Die ständige öffentliche Debatte um die - angebliche oder tatsächliche - Benachteiligung sozial Schwächerer durch das deutsche Bildungssystem ist also absolut kontraproduktiv. Wenn sozial schwächere Elternhäuser und deren Kinder dies ständig eingetrichtert bekommen, dann erschlägt dies einfach den Willen, eigene Lernpotentiale zu nutzen. Recht auf Bildung hin, Recht auf Bildung her: Dieses Recht kann nur dann ausgelebt werden, wenn es von einer Pflicht zur Bildung flankiert wird. Es muss uns also gelingen, auch sogenannte „bildungsferne“ Menschen zu Anstrengungen zu motivieren und an ihre Holschuld in Sachen Bildung zu erinnern.

Damit hängt vielleicht auch der fünfte Punkt zusammen: Es gibt keine Bildungsoffensive ohne Erziehungsoffensive. Da ist etwas überfällig. Die Schule kann aus sich allein heraus jedenfalls keine Steigerung des Bildungsanspruchs erzielen, wenn sich immer mehr Eltern aus ihrer erzieherischen Verantwortung verabschieden. Richtig, nach wie vor nimmt zwar der größte Teil der Elternschaft die erzieherische Verantwortung ernst. Wenn aber die häusliche Vorbereitung der Schüler nicht „klappt“, dann „klappt“ es in der Schule nicht.

Das gilt beispielsweise für das Lesen: Wenn das Lesen zu Hause nicht gefördert wird, z. B. durch Vorbilder, dann klappt es auch später nicht. Denn die Gewohnheiten hinsichtlich Medienkonsum werden im ersten Lebensjahrzehnt gelegt oder eben nicht. Das beginnt mit dem Erzählen und Vorlesen zu Hause. Das Vorlesen und das Erzählen sind nämlich die klugen Mütter und Tanten des Lesens. Und es setzt sich mit dem elterlichen Vorbild fort. Für Eltern aber gilt, etwas heftig formuliert: Wer selbst vorzugsweise erdnussmampfend vor der Glotze sitzt, kann schlecht und wenig glaubwürdig ins Kinderzimmer rufen: „Nun lies doch mal ein gutes Buch!“

Und ein sechster Punkt liegt mir am Herzen: Bildung ist erheblich mehr als das, was PISA misst. Wir brauchen eine Schulleistung und vor allem eine Bildung jenseits von PISA. Wir müssen uns in Sachen Bildung auch wieder auf den Eigenwert des Nicht-Messbaren besinnen. Denn, flapsig veterinär-medizinisch ausgedrückt: Allein vom Wiegen wird die Sau nicht fett!

Warum ich das betone? Weil ich das Gefühl habe, Schulleistung wird nach PISA nur noch rein operationalistisch betrachtet, und weil eine schier epidemische Testeritis durch Deutschlands Schulen geht.

Bildung hat aber einen nicht messbaren Wert. Hier stimme ich dem bildungspolitischen Papier der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom November 2000 ausdrücklich zu; es trägt den Titel „Tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung“. Darin wird erfreuliche Kritik geübt an einem „Totalitarismus neuen Typs“, nämlich dem „subjektlosen Funktionalismus“, der auch die Bildung erobert habe. Es wird gesagt, Technik und Wirtschaft profitierten vom Sabbat.

Eine Reduktion von Bildung aber auf das Marktgängige bedeutete einen Verlust an kulturellen Optionen, an konkreten Denk-Spielräumen und an bereichernden Fremdheits-Erfahrungen.

Bildung kann ansonsten nicht eigentlich zweckgebunden sein. Deshalb: Erhalten wir uns das, was Schule eben neben dem Funktionalen auch ausmacht: Chor, Orchester, Bigband, Theatergruppe, Kleinkunstbühne, Schulsportmannschaft, Weihnachtsbasar, Partnerschaften! Es geht um Muse und um Müßiggang. Im Lande eines Bach und Beethoven, eines Kant und Hegel, eines Goethe und Schiller sollte man das nicht vergessen.

Zum Schluss noch einmal: Es gilt, unsere Jugend zu verteidigen. Mittlerweile ist es nämlich so weit, dass nicht deren vermeintliche Bildungsdefizite unsere Jugend auf dem internationalen Parkett benachteiligen, sondern dass ihre Chancen dadurch geschmälert werden, dass ihr Können in typisch deutscher Manier schon zu Hause schlechtgeredet wird. Wer schließlich nimmt noch einen deutschen Absolventen, wenn dessen eigenes Land nicht von seiner Qualifikation überzeugt ist?

Ansonsten sollten wir uns ganz selbstbewusst trösten: Unsere Schüler werden auch in Zukunft mehr leisten, als es das vereinte PISA-bewegte Experten-(un)wesen aus Schulpolitik und Schulpädagogik überhaupt zulässt.


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* Zum Autor:
Josef Kraus, Dipl.-Psych., Jahrgang 1949, studierte für das Lehramt an Gymnasien Deutsch und Sport. Er war 15 Jahre lang Gymnasiallehrer und Schulpsychologe; heute ist Kraus Oberstudiendirektor. Seit 1987 ist er Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, in dieser Funktion nimmt er regelmäßig im Radio und Tageszeitungen zu schulpolitischen Fragen als Kommentator Stellung.


Buch:
- PISA. Der Schwindel. Signum-Verlag.